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Mouches volantes als Inspirationsquelle für Carlos Castaneda? - Teil 4, Fazit


DAS BEWUSSTSEIN SEHEN

Geschrieben von Floco Tausin am 04. Februar 2006 12:04:47:

Teil 4: Zusammenfassung und Fazit

Wie wahrscheinlich ist es, dass Castanedas Werk auf der Wahrnehmung der Mouches volantes basiert? Warum hat er diese Punkte und Fäden nicht realistischer dargestellt, sondern im Gegenteil mit jedem weiteren Buch mythischer und komplizierter, sowohl was die Wahrnehmung wie die Erklärung anbelangt? Dies sind die Fragen des letzten Teils.

Einen expliziten Hinweis, dass es sich bei den aussergewöhnlichen Wahrnehmungen geometrischer Strukturen um Mouches volantes handeln könnte, finden wir in den Büchern von CC nirgends. Was wir finden, ist eine teilweise Übereinstimmung der Beschreibungen solcher Wahrnehmungen mit den Mouches volantes. So können die bei CC beschriebenen Blasen, Feuerkugeln und -bälle, leuchtenden Eier und Kokons durchaus als Leuchtkugeln der Mouches volantes verstanden werden; die Energielinien, Fäden, Fasern, Tentakel wiederum deuten auf die Leuchtfäden hin. Weiterhin finden wir bei den Seh-Techniken und Vorgängen während des Sehens (Zoom-Effekt, Wille als Ekstase) Entsprechungen zwischen den Lehren des DJ und des Nestor. Gleichzeitig gibt es jedoch Aussagen, welche eine Vereinbarkeit verunmöglichen, v.a. dort, wo es um eine Gleichzeitigkeit von Sehen und manipulativem Handeln geht. Erschwerend ist weiterhin, dass die Bedeutungen und Beschreibungen der genannten Phänomene in CCs Werk selbst nicht einheitlich sind, sondern sich durch die Bücher hindurch verändern. Diese Veränderung geht in Richtung Komplexität: Die runden und fädenartigen visuellen Phänomene werden zunehmend detaillierter beschrieben, sowohl was ihre Erscheinung als auch ihre Funktion betrifft.

Trotzdem ist es meiner Ansicht nach nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich, dass die Wahrnehmung von Mouches volantes inspirierend auf CCs Werk gewirkt hat: Einerseits ist das Phänomen der Mouches volantes bei den Leuten um Castaneda bekannt, wie das Interview mit den Chacmool-Frauen gezeigt hat. Anderseits ist es aufgrund Nestors Erfahrung nur schwer vorstellbar, dass sich ein Mensch über Jahre hinweg immer wieder in intensivere Bewusstseinszustände begibt um sich in höchster (visueller) Aufmerksamkeit zu üben, ohne jemals die Entwicklung der Mouches volantes zu beobachten. Die Verbindung von Bewusstseinsfortschritt und Mouches volantes wird vielleicht nicht von Anfang an erkannt; doch je länger die Phase der Beobachtungen und Vergleiche der eigenen Zustände mit der visuellen Wahrnehmung dauert, desto sicherer wird es, dass der oder die Suchende die tiefergehende Bedeutung der Mouches volantes realisiert.

Ob allerdings CC selbst dieser Mensch war, der sich so intensiv um die Bewusstseinsentwicklung bemühte und diese Mouches volantes gesehen hatte, ist wieder eine andere Frage – und damit sind wir bei der Gretchenfrage: Wenn CCs Werk tatsächlich durch die Mouches volantes inspiriert ist, warum wird das in keinem Buch klipp und klar gesagt? Denkbar sind folgende Szenarien:

1) CC wusste nichts von Mouches volantes und konnte sie selbst nicht sehen. In diesem Fall wäre es Don Juan (oder wer immer sein Informant und Lehrer war) gewesen, welcher von seinen aussergewöhnlichen Wahrnehmungen von leuchtenden Kugeln und Fäden berichtete und diese vielleicht selbst ausschmückte. Wenn dieser Mensch tatsächlich ein mexikanischer Indianer ohne Zugang zu westlich akademischem Wissen war, so ist anzunehmen, dass er die augenheilkundliche Erklärung der Mouches volantes nicht kannte. Möglich ist auch, dass CC in der Universitätsbibliothek von Los Angeles auf Weltbeschreibungen und kosmische Darstellungen alter mesoamerikanischer Kulturen stiess, in welchen kugel- und fädenartige Gebilde und Verzierungen oftmals eine prominente Rolle spielen – was wahrscheinlich ebenfalls auf die Wahrnehmung von entoptischen Phänomenen wie den Mouches volantes zurückgeht, sofern die Kunst durch schamanische Visionen inspiriert ist (dies ist jedoch Gegenstand eines anderen Newsletters). In jedem Fall wäre die moderne medizinische Erklärung nie ins Gespräch eingeflossen.

2) CC hat die Mouches volantes selbst gesehen und vielleicht infolge seiner bewusstseinsfördernden Praktiken auch ihre tiefere Bedeutung erkannt. In seinen Büchern hat er sie aber sehr stark mythisch verklärt, denn sein Zielpublikum suchte die fantastischen Aspekte der Realität, nicht die rationalen Erklärungen. Vielleicht kannte CC sogar von Anfang an die medizinische Bedeutung des entoptischen Phänomens. Dies konnte er aber aus verständlichen Gründen nie preisgeben, denn eine Aufklärung hätte seinem ganzen Werk nicht nur einen stark rationalen Anstrich verpasst, sondern hätte es regelrecht pathologisiert. Die Kritik wäre auf dem Fuss gefolgt: CC lässt sich von einem mexikanischen Schamanen in die Zauberkunst des makellosen Gaffens auf eine „Augenkrankeit“ einweihen ...

Wie auch immer: Klar ist jedenfalls, dass CC nicht nur hohe Anforderungen an unsere Toleranz und Vorstellungskraft stellt, sondern uns durch theoretische Erweiterungen und begriffliche Veränderungen auch einen grossen Interpretationsspielraum seines Werkes eröffnet – einen Interpretationsspielraum, in den auch die Mouches volantes mit grosser Wahrscheinlichkeit passen. Symptomatisch hierfür ist die Stelle im siebten Buch „Das Feuer von innen“, wo DJ CCs Wahrnehmung von Feuerkugeln detaillierter auslegt, es seien in Wahrheit keine Feuerkugeln, sondern irisierende Ringe. Als CC Genaueres über diese irisierenden Ringe in Erfahrung bringen will, protestiert DJ: „Nimm mich nicht so wörtlich.“

Literatur
Castaneda, Carlos: Die Lehren des Don Juan, 1998 (34. Aufl.)
ders.: Eine andere Wirklichkeit, 1971
ders.: Reise nach Ixtlan, 1972
ders.: Der Ring der Kraft, 1974
ders.: Der zweite Ring der Kraft, 1977
ders.: Die Kunst des Pirschens, 1981
ders.: Das Feuer von Innen, 1984
ders.: Das Wirken der Unendlichkeit, 1998
http:// www.sustainedaction.org
Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Castanedas Werken: Murray, Stephen O.: The Scientific Reception of Castaneda, in: Contemporary Sociology 8, 2 (1979), S. 189-192
Tausin, Floco: Mouches Volantes. Die Leuchtstruktur des Bewusstseins, 2004



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